«Ein Grappa mit Ennio Morricone würde mich derzeit mehr interessieren als sein Rat»

Vergangene Woche veröffentlichten Egopusher ihr Album «Beyond». Ein Gespräch über das Ende von Science Fiction, sowas wie Magie und wohlige Wunschträume.

Egopusher muss man eigentlich keinem Schweizer Musikfan mehr vorstellen. Das Duo aus Schlagzeuger und Produzent Alessandro Giannelli und Violinist Tobias Preisig macht seit sieben Jahren gemeinsam Musik, die meiste davon spielt im Club, könnte aber mindestens so gut Kinofilme untermalen. Letzteres ist natürlich kein Zufall: Einmal einen Soundtrack zu schreiben, ist erklärtes Ziel der Zürcher. Auch dem neuen Release «Beyond» hört man diesen Wunsch deutlich an.




Das Album wattet die treibenden Clubbeats einmal mehr in Melodien, die Raum und Zeit ausklammern, und zwar smoother und dramatischer denn je. Geschrieben haben Alessandro und Tobias die sechs neuen Songs über gut zwei Jahre und unzählige internationale Tour-Stopps verteilt. Aufgenommen wurde «in 28 magischen Tagen» zwischen Engelberg und Berlin, produziert hat David Hofmann.

Per Mail haben uns Alessandro und Tobias «Beyond» und ihre Liebe für Science Fiction erklärt.

Es ist eine Weile her seit es mit euch losging – lasst uns kurz zu den Anfängen zurück: Was hat euch überzeugt, Musiker zu werden?

Alessandro: Mein Vater war früher Sänger und Keyboarder einer Italo-Pop-Band. Als Kind durfte ich immer in die Bandproben sitzen und zuschauen. Das hat mich unglaublich fasziniert und natürlich sehr beeinflusst. Nach absolvierter KV-Lehre war mir klar, was ich nicht will und mir nicht guttut, darum entschied ich mich für den musikalischen Weg. Ich habs bis heute nicht bereut.

Tobias: Bei mir war es ähnlich. Musik war in meiner Familie sehr präsent, sogar bei den Grosseltern im Appenzell. Bei jedem Besuch wurde einfach musiziert. Als ich mir mit sieben Jahren meinen ersten Walkman erspart hatte, intensivierte sich mein Musikkonsum. Mit Hilfe eines Stirnbandes drückte ich die Kopfhörer in mein Ohr um einen volleren, satteren Sound zu haben. Auch wenn ich Platten hörte, lag ich als Kind immer sehr nah an den Boxen, oder wenn jemand im Haus Klavier spielte, wollte ich so nah wie möglich an den Klangkörper rankommen. Zum Beruf machen oder nicht war gar nie eine grosse Frage. Musik ist, was ich am besten kann und was mich am meisten erfüllt.

Woher kommt eigentlich euer Name? Ich meine, Egopusher – mangelt es euch etwa? 

Alessandro: Der Name hat auf eine sehr positive Art und Weise mit Ego zu tun. Als wir anfingen zusammen Musik zu machen, nahmen wir alles mit dem Handy auf. Eines morgens hörte ich diese 30 Sekunden lange Passage vom Vortag an, die mich umhaute. Ich sendete sie Tobias per SMS, mit dem Vermerk «Hallo Tobias, hier ein kleiner Egopusher für deinen heutigen Tag». Die Geschichte verbindet uns und die Art wie wir zusammen Musik machen. Und der Name hat uns nicht mehr losgelassen.

Euer neues Album habt ihr «Beyond» getauft. Worüber hinaus soll es gehen? 

Tobias: Wir wollen unsere Musik und unsere Komfortzonen pushen, und zwar mit jedem neuen Album. Wir wollen immer neugierig bleiben. Während des Aufnahmeprozesses von «Beyond» hatten wir dieses unendliche Gefühl von Weite und etwas, das man nicht mehr einfach nur benennen kann.

Ihr nennt Themen wie Weltall und Raumfahrt sowie psycho-spirituelle Nebeneffekte als Inspirationsquellen. Was fasziniert euch an diesen Dingen?

Tobias: Wir beide haben eine Liebe für Sci-Fi-Filme und deren Ästhetik; Orte, wo Grundregeln hinterfragt werden, wo Gravität sich auflöst.

Alessandro: Schon als Kind hatte ich eine grosse Faszination für die Sterne, Planeten, Raumschiffe und das Weltall. Ich würde auch immer noch viel dafür geben, mal den Zustand der Schwerelosigkeit zu erleben.

Ihr sagt ja, dass oft Improvisations-Sessions die Grundlage eurer Songs sind. Warum glaubt ihr funktioniert dieser Zugang so gut für euch?

Alessandro: Wenn man über Musik spricht, wird es oftmals kompliziert und es entstehen meist nur Missverständnisse. Darum lassen wir die Musik sprechen. Die Improvisations-Sessions helfen uns, das Ehrlichste aus uns beiden herauszuholen. In jeder Session haben wir diese magischen Momente, die Destillate quasi, aus denen dann die Songs entstehen.

Ihr werdet gern der Neoklassik zugeordnet. Inwiefern identifiziert ihr euch mit dem Stil? Ich finde das Genre persönlich ja recht missverständlich. 

Tobias: Unsere Musik lässt sich bestimmt diversen Genres zuordnen und einzelne unserer Tracks könnten durchaus in einer «Neoklassik»-Playlist auf Spotify landen. Wir empfinden Stile und Labels für Musik aber eher als schwierig. Sobald man als Band nicht in die gängigen Schubladen passt, wird es kompliziert. Wird man einem Genre zugeschrieben, grenzt das wiederum immer auch ein potentielles Publikum aus. Wir wollen aber offen sein und hoffen auch auf ein offenes Publikum, dass sich gerne überraschen lässt.

Im Pressetext steht: «Es ist die Art Musik, zu der man einen Film für die Grossleinwand drehen muss.» Tatsächlich spielt ihr oft in Clubs. Auf welcher Plattform fühlt ihr euch am wohlsten und warum?

Tobias: Wir werden an Konzerten oft gefragt, warum wir nicht Filmmusik machen. Anscheinend löst unsere Musik Bilder aus und vielleicht ist ja gerade die Bühne – das Konzert – dieser Film auf der Grossleinwand, der vielleicht gar nicht mehr gedreht werden muss?

Schöner Gedanke! Ihr habt in den letzten Jahren intensiv getourt, in Frankreich, Deutschland, China. Niemand weiss heute so genau, wann internationale Tourneen wieder möglich sein werden. Was nehmt ihr aus der Zeit mit? 

Tobias: Ich bin inzwischen überzeugt, dass eine Band Kilometer zurücklegen muss, um ihre Persönlichkeit zu stärken und trotzdem bescheiden zu bleiben. Ich hoffe sehr, dass kultureller Austausch auch international bald wieder möglich ist. Es nährt unsere Musik und bringt uns weiter.

Alessandro: Und wenn man das Publikum in den genannten Ländern vergleicht: Wir hatten noch nie ein so aufmerksames Publikum wie in China. Das war wirklich faszinierend. Auch in einer Halle, die nur halb gefüllt ist, drückten sich die Leute an den Bühnenrand und hörten aufmerksam zu. Selbst der Applaus zwischen den Songs dauert oftmals nur 2-3 Sekunden, um möglichst wenig von der Show zu verpassen. Das war wirklich eine schöne Erfahrung.

Welche Rolle spielt Streaming für euch? Ihr bewegt euch immerhin auf die Million zu. 

Alessandro: Unser Label Quiet Love Records meint immer, «wir sind am Marathon interessiert, nicht am Sprint». So arbeiten wir einfach ruhig und kontinuierlich weiter und freuen uns über jede(n) neue(n) Zuhörer*in, die/der uns auf diesem Marathon begleitet und unterstützt.

Tobias: Genau. Und weil wir langfristig denken, können wir uns auch mal eine Auszeit zum Komponieren und Experimentieren nehmen. Hinsichtlich der Million: Mit der Zeit verliert man ein bisschen das Gefühl für diese Zahlen. Tausend Hörer*innen sind für die einen nicht erwähnenswert und für die anderen bereits unerreichbar. Alessandro meint immer, «zähl mal auf Tausend». Dann wird es physisch und man kann sich etwas darunter vorstellen.

Wir können kaum nicht darüber sprechen: Hat die Pandemie in euch Ängste ausgelöst? Andere als vielleicht vorher schon da waren?

Tobias: Wenn man sich zu fest darauf stützt, sein Einkommen künftig mit Live-Konzerten finanzieren zu müssen, wird einem schon eher schwindlig. Glücklicherweise sind wir es uns als selbständige Musizierende gewohnt, uns flexibel im System anzupassen. Auch um unserer Musik und Vision treu zu bleiben. Speziell jetzt sind wir aber alle gefordert, gängige Muster zu überdenken und neue Wege einzuschlagen. Wir können und wollen nicht sogenannt auf dem Sofa sitzen und dabei die Welt retten. Wir wollen Musik machen und die Welt bereichern.

Mal umgekehrt gefragt: Wie bereichert Musik eure Welt?

Tobias: Musik ist unser kreativer Output und darum für uns lebensnotwendig.

Von welchem Musiker hättet ihr gern Rat und warum?

Alessandro: Ich hätte sehr gerne einmal die Gelegenheit gehabt, mit Ennio Morricone einen Grappa zu trinken.

Tobias: Oh, das klingt verlockend. Morricone, ein Mann für die ganz grossen Melodien der Welt! Einen Austausch mit einem Grappa würde mich derzeit auch mehr interessieren als ein Rat. Ich hole mir Rat von meiner Umgebung, für Inspiration und Vision würde ich mich gerne mal mit Mica Levi unterhalten.

Könnt ihr vom Musikmachen leben? 

Tobias: Alles, was wir individuell machen, hat mit Musik zu tun, also ja. Unser Ziel ist es aber, von Egopusher zu leben und darauf arbeiten wir hin.

Wünscht ihr euch in der Schweiz mehr Unterstützung für die Branche?

Alessandro: Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir in der Schweiz ein System, dass Musik subventioniert. Auch wir profitieren immer wieder davon und wissen das sehr zu schätzen.

Was erhofft ihr euch für 2021?

Tobias: Für die Band wünschen wir uns natürlich, dass es wieder möglich ist, Konzerte auch international zu spielen. Wir sind mit unserem Tontechniker Tobias Stritt und unserem Lichttechniker Jan Humbel eine wirklich tolle Show am erarbeiten und diese wollen wir mit möglichst vielen Leuten teilen.

Der Traum für 2030?

Alessandro: Wir befinden uns momentan im «verflixten siebten Band-Jahr». Wir lieben es immer noch, zusammen Musik zu machen. Die Band hat sich seit der Gründung kontinuierlich und organisch weiterentwickelt und wir hoffen, dass das so weitergeht, wir im Jahr 2030 noch immer gerne gemeinsam Musik machen und vielleicht endlich unsere langersehnte Nightliner-Tour gespielt haben. Es wäre auch schön, wenn die Welt wieder ein bisschen weniger einem Sci-Fi-Film ähnelt. Aber falls es so weitergeht, hätten wir 2030 bestimmt den perfekten Soundtrack am Start.

«Beyond» ist am 9. Oktober bei Quiet Love Records erschienen. Am 23. Oktober feiern Egopusher Plattentaufe im Bogen F.