City Pop: der Soundtrack zur Sorglosigkeit

Und das Verlangen nach einer nie erlebten Vergangenheit.

Im japanischen Wirtschaftsboom der Achtzigerjahre entsteht ein Musikgenre ganz im Zeichen der Prosperität. Als die Bubble Economy anfangs der Neunzigerjahre aber platzt, verschwindet mit ihr auch das Genre. Erst 35 Jahre später taucht City Pop wieder auf – und nimmt gleich mehrere neue Gestalten an. Eine Reise durch Raum und Zeit, recherchiert und geschrieben von Seline Bietenhard und Dario Veréb.

Tokyo, Ein lauer Sommerabend in den Achtzigern. Eine Menschenmenge strömt über die berühmte Shibuya Kreuzung, an den Fassaden der Wolkenkratzer flimmert Werbung für Canon, Fujifilm und Yamaha. Autofahrer warten auf grünes Licht und lassen den Blick über den Gehsteig schweifen. Zwischen mehrstöckigen Elektrofachgeschäften und Spielhallen zieren Chōchins den Eingang kleiner Ramen Shops. Das sanfte Licht der traditionellen Lampions kontrastiert die blinkenden Leuchtreklamen. Plaudernde Passanten, brummende Motoren und klimpernde Pachinkos vermengen sich zu einem Klangteppich, der von einer leichten Melodie getragen wird.

«Die Stadt der schlaflosen Nächte, durchflutet von rauschenden Lichtern.» («City» von Taeko Ōnuki)

Sie schwappt aus einer Bar auf die Strassen der Grossstadt. Verwehrt bleibt sie nur jenen, die vertieft den Melodien des eigenen Sony Walkmans lauschen. Die Ampel schaltet auf grün, Hondas, Nissans und Toyotas setzen sich in Bewegung.

«Dream in the street, sie fliessen weiter. Dream in the street, sie kreisen weiter.» («Dream in the Street» von Noriyo Ikeda)

Es ist ein Jahrzehnt ganz im Zeichen der Prosperität. Noch ist die riesige Spekulationsblase nicht geplatzt – im Gegenteil: die Wirtschaft boomt. Kurz bevor die Neunziger anbrechen, stammt die Hälfte der weltweit börsenschwersten Unternehmen aus Japan. Das Land ist der grösste Autohersteller, produziert fast achtzig Prozent aller verkauften Kameras und dominiert mit dem Nintendo Entertainment System (NES) den Heimkonsolenmarkt. In Japan entsteht zu dieser Zeit die moderne Popkultur: Donkey Kong und Super Mario, Son-Goku und Totoro. Und City Pop, der süsse Soundtrack zum sorglosen Leben.

«Ich will da sein, um für dich zu singen, bis der Sommer endet.» («Crazy for you» von Marina Saitō)

Ein Passant schiebt sein Fahrrad an den Chōchins eines Ramen Shops vorbei in die Richtung eines 7-Eleven. Eine klassisch japanische Alltagsszene. (Dario Veréb)

Von Königinnen und Maschinen

Das Genre tauchte in den späten Siebzigerjahren auf und wurde in den Achtzigern populär. Anfänglich etwas abschätzig als «Ableger» der vom Westen beeinflussten «neuen Musik» bezeichnet, wurde City Pop schnell zum Gütesiegel des aufkeimenden Wirtschaftsbooms und der entstehenden Oberschicht Japans.

Funk und Yacht Rock, Boogie und Lounge Music ergeben eine Mischung, die einfach zu geniessen, aber keinesfalls bescheiden oder simpel ist. Es ist Musik für gute Zeiten, getragen von einem Optimismus, der sie zu mehr als nur einer japanisierten Version westlicher Musik macht. Sie ist geprägt vom Lebensstil und technologischen Fortschritt der Insel. Deshalb wurden die meisten Songs auch spezifisch für Autoradios und tragbare Kassettenspieler gemastert.

«Blues-Musik passt nicht zu schnellen Tanzschritten – Let’s dance baby.» («Let’s Dance Baby» von Tatsuro Yamashita)

Funky Bass-Riffs, Synthesizer und Stimmen, die wechselnd auf japanisch und englisch über die Liebe, die Stadt und das Leben damit singen, manchmal unterlegt mit Blas- oder Streichinstrumenten: Alles das ist City Pop. Die Palette reicht von tanzbaren Songs, bis zu leicht sehnsüchtig-melancholisch angehauchten Stücken. Niemals verlieren sie aber ihren Groove oder Drive. City Pop klingt, wie es heisst: urban und lebhaft.

«Unter der Discokugel bricht der Bann, der dich in meinen Gedanken hält» («Plastic Love» von Mariya Takeuchi)

Junko Ōhashi und Momoko Kikuchi waren seinerzeit Verkaufsschlager. Zwar gilt der Sänger Tatsuro Yamashita als König des Genres, seine Ehefrau Mariya Takeuchi ist aber genauso königlich. Ihre Hit-Single «Plastic Love» war es, die 2017 City Pop wiederbelebte. Der Song wurde damals auf YouTube hochgeladen, wo er innert zwei Jahren über 24 Millionen Aufrufe erreichte. Warner Music Japan reagierte auf die plötzliche, erneute Popularität, indem es 35 Jahre nach der Erscheinung der Single ein Musikvideo dafür produzieren liess. Im selben Jahr brachte Takeuchi ein Album heraus, um das vierzigjährige Jubiläum ihrer Karriere zu feiern. City Pop weigert sich Vergangenheit zu werden. Es lebt auf unterschiedlichste Arten weiter und vergisst dabei nie, wo es her kam: aus dem Land der aufgehenden Sonne.

«Ich hörte durch das zersprungene Glas das Rascheln der seidenen Kleider der Hochhäuser.» («Kaze wo Atsumete» von Happy End)

Ganz am Anfang von City Pop steht Happy End; Eine Band, die nur drei Jahre aktiv war und den Grundstein für ein Genre legte, das erst zehn Jahre später erfolgreich werden sollte. Sie klingt nicht wie City Pop, denn damit wäre sie in den Siebzigern kaum erfolgreich gewesen, aber sie produzierte mit «Kazemachi Roman» laut Rolling Stone Japan «das beste japanische Rockalbum aller Zeiten». Nachdem die Gruppe sich 1973 aufgelöst hatte, gründete das Bandmitglied Haruomi Hosono gemeinsam mit zwei weiteren Musikern 1978 das Yellow Magic Orchestra. Die Elektropop-Band produzierte einen Sound, der elektronischer und experimenteller als City Pop klang. Irgendwo dazwischen also – zwischen einem Song, der in Sofia Coppolas «Lost in Translation» zu hören ist und einem anderen, der die Titelmelodie einer kanadischen TV-Show für Kinder war – liegt im perfekten Gleichgewicht die Musik der japanischen Achtziger. Ähnliches lässt auch der Werdegang des King of City Pop, Tatsuro Yamashita vermuten: Nach seinem ersten Album, das hauptsächlich aus Beach Boys Covers bestand, und seiner Zeit in der Band Sugar Babe, die mit ihrem Folk Pop Album nicht allzu erfolgreich war, entschied er sich für die Solokarriere. Es folgte kommerzieller Erfolg und die Begegnung mit der Liebe seines Lebens, Mariya Takeuchi.

Der Stadtbezirk Shibuya, indem auch Szenen des Films «Lost in Translation» gefilmt wurden. (Dario Veréb)

Flucht in den Flimmerkasten

«Die Welt ist eine große Schatzinsel. Jetzt ist es Zeit für ein Abenteuer!» («Makafushigi Adventure!» von Hiroki Takahashi)

Die Hymne der Sorglosigkeit, ein Testgelände für neue Technologien und voller Frauenpower; City Pop ist vielseitig und weckt Erinnerungen – auch ausserhalb Japans. Laut einer Umfrage in verschiedenen City Pop Foren ist Nostalgie das der Stilrichtung am meisten zugeschriebene Attribut. Dafür sind unter anderem Animes verantwortlich. Viele Titelmelodien japanischer Zeichentrickfilme tönen wie City Pop, denn sie wurden auch in den Achtzigern zum ersten Mal ausgestrahlt: Mobile Suit Zeta Gundam, Maison Ikkoku, Dragonball und City Hunter sind nur einige Beispiele. Vor flimmernden Röhrenfernsehern kamen viele Europäer zum ersten Mal mit japanischer Popkultur in Berührung. Groovy Basslines, eingängige Synth-Melodien und kräftige Stimmen kombiniert mit farbenfrohen Illustrationen einer weit entfernten Welt. Dorthin will man fliehen, wenn man City Pop hört: In das surreale Japan der Animes.

«Bis gestern dienten meine Hände dazu, meine Knie fest an mich zu drücken. Aber von nun an halten sie unsere Herzen.» («Ai yo kienaide» von Kahoru Kohiruimaki)

Dieser Eskapismus ist der wichtigste Grund für die neue Popularität von City Pop. Lange Nächte im Licht der Grossstadt, im Schatten einer Wirtschaftsblase, die nie zu platzen scheint – genau genommen keine Realitäts-, sondern eine Zeitflucht. Zurück in die Achtziger, als man in Japan scheinbar sorglos lebte. Denn als die Blase platzte, gingen Jahrzehnte verloren.

Ein Zufluchtsort für erschöpfte Geschäftsleute: Ein Plastikvorhang trennt die Gäste dieses kleinen Ramen Shops in Kyoto von der hektischen Aussenwelt. (Dario Veréb)

Schall und Rauch und Dampf

Die Welt, in der City Pop entstand, ist nicht mehr. Es war die Musik des Booms, doch die Neunziger standen ganz im Zeichen der Rezession. Billionen lösten sich in Luft auf. Aktien und Immobilien verloren an Wert, zurück blieben Zombieunternehmen und faule Kredite. Erst 2004 besserte sich die Lage, als die Regierung Marktprozesse umstrukturierte und die Zentralbank die faulen Kredite zurückzukaufen begann. Darauf folgte 2007 jedoch die nächste Wirtschaftskrise. Die Prosperität der Bubble Economy liegt in ferner Vergangenheit. Aus Ushinawareta Jūnen, wurden Ushinawareta Nijūnen und die dritte «verlorene Dekade» ist bereits angebrochen. City Pop scheint eines jener guten Dinge zu sein, die zu einem Ende kommen mussten – vielleicht aber auch nicht.

«Heute Abend, sagte ich, werde ich nicht nach Hause gehen.» («Girl in The Box» von Toshiki Kadomatsu)

Die Wiederentdeckung des Genres durch eine stetig wachsende Online-Community, ist mehr als nur eine Wiederbelebung vergessener Klänge. Die Hits von damals inspirieren Künstlerinnen und Künstler von heute und sind mitverantwortlich für die Entstehung von Future Funk und Vaporwave. Die jungen Musikstilrichtungen bedienen sich nicht nur mit Samples, sondern verbinden die Klangwelt bewusst mit der Anime-Ästhetik und der Konsumkultur des florierenden Japans.

«Rennen am Strand – es ist wie der Traum von damals.» («Windy Summer» von Night Tempo)

Future Funk entwickelte sich aus Vaporwave, hat aber mehr mit City Pop gemein als der übergeordnete Musikstil. Wie der Name vermuten lässt, behält Future Funk den Groove bei und ist deshalb discotauglicher. Bei Vaporwave werden durch erhebliches Chopping and Screwing die Samples so weit entfremdet, dass häufig eine komplett neue Melodie entsteht. Vaporwave verwendet auch gerne Samples aus Smooth Jazz, Lounge- oder Fahrstuhlmusik und ist deshalb vielfältiger.

«Wir können weitermachen, verstehst du? Es liegt in deinen Händen.» («リサフランク420 / 現代のコンピュー» von Macintosh Plus)

Animes aus den Achtzigern, Webdesign aus den Neunzigern, Cyberpunk aus der Zukunft und japanische Schriftzeichen bilden die Subkultur dieser Genres. Es sind Elemente mit nostalgischem Charakter – das Vermächtnis von City Pop. Die Zeit existiert nicht mehr, doch der Geist der Musik lebt weiter, dank dem menschlichen Verlangen nach einer heilen Welt. Und mit City Pop fühlt sich der Traum realer an denn je.

Nach Regenfall bedecken Kirschblütenblätter einen Park in Tokyo, als wollten sie Risse und Löcher im Boden heilen. (Dario Veréb)

Eine Auwahl der besten Songs, zusammengestellt von den Autor*innen Seline Bietenhard und Dario Veréb findest du in dieser Playlist.